Reden im Landtag
Elisabeth Kula zum Antrag der FDP "Aufstiegsversprechen erneuern"
In seiner 141. Plenarsitzung diskutiert der Hessische Landtag am 20.07.2023 über den Antrag der Freien Demokraten "Aufstiegsversprechen erneuern-Soziale Mobilität senken". Dazu unsere Fraktionsvorsitzende Elisabeth Kula
Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!
Bei den Ausführungen von Herrn Dr. Falk von der CDUFraktion zu seinen Wünschen, die er gerade zehn Minuten lang aufgezählt hat, frage ich mich schon, wer in den letzten neuneinhalb Jahren hier in Hessen regiert hat. Wer war es denn? Vielleicht kann uns Herr Dr. Falk das erklären.
(Beifall DIE LINKE und SPD – Zurufe CDU)
In keinem OECD-Land ist der Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Eltern und dem Bildungserfolg ihrer Kinder so groß wie in Deutschland. Der PISA-Schock im Jahre 2001 hat Deutschland aus seinem bildungspolitischen Tiefschlaf geweckt. Schließlich hatte man sich bis dahin ganz gut in der Illusion eingerichtet, die soziale Marktwirtschaft löse die Aufstiegsversprechen ein. Zumindest bis in die Neunzigerjahre hinein konnte man sich auf dieser Annahme auch ganz gut ausruhen.
Aber die Einkommensungleichheiten in den am höchsten entwickelten Industriestaaten haben seit den 1990er-Jahren stetig zugenommen, während die soziale Mobilität ins Stocken geraten ist. Laut einer Studie von Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Hochschule MagdeburgStendal, benötigt ein Mensch nach dem von der OECD ermittelten Durchschnitt für den Aufstieg von unten in die Mitte der Gesellschaft fünf Generationen. Während es in den skandinavischen Staaten nur zwei bis drei Generationen braucht, liegt der Wert für Deutschland bei sechs Generationen, also bei 180 Jahren, sagt Klundt. Er sagt, es gehe hierbei nicht darum, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, sondern es gehe eher darum, vom Tellerwäscher zum Koch zu werden. – Das ist die gesellschaftliche Realität in Deutschland.
(Beifall DIE LINKE)
In Deutschland, so der Experte weiter, gebe es im OECDVergleich überproportional viele Abstiege im Verhältnis zum Bildungsabschluss der eigenen Eltern und unterproportional viele Aufstiege.
Auch die aktuellen Zahlen der IGLU-Studie aus diesem Jahr zeigen, dass Kinder aus einkommensschwachen Haushalten seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten. Kinder aus Facharbeiterfamilien müssen deutlich besser lesen als Kinder aus Akademikerfamilien, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einem Beamtenhaushalt eine solche Empfehlung bekommt, ist 2,5-mal höher als für ein Arbeiterkind. Nur Bulgarien steht in der Vergleichsgruppe der IGLU-Studie schlechter da als Deutschland, was den Zusammenhang von Herkunft und Leseleistung angeht.
Hinzu kommt, dass reiche Eltern sich eher dafür entscheiden, ihr Kind auf ein Gymnasium zu schicken, auch dann, wenn ihr Kind gar nicht so leistungsstark ist. Ärmere Eltern entscheiden sich häufiger gegen das Gymnasium, auch wenn ihr Kind eine Gymnasialempfehlung hat.
Das gilt auch für den Übergang von der Schule an die Hochschule. Von 100 Studenten kommen 74 aus Akademikerfamilien, aber nur 25 aus Nichtakademikerfamilien. Außerdem ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern nicht deutscher Staatsbürgerschaft an Gymnasien mit 7 % deutlich geringer als an Haupt- und Realschulen. Dort beträgt ihr Anteil 35 %.
Der Zugang zu Bildung ist also immer noch höchst ungleich verteilt. Das widerspricht im Übrigen der Hessischen Verfassung. Dort steht in Art. 59 Abs. 2:
Der Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen ist nur von der Eignung des Schülers abhängig zu machen.
Da frage ich mich schon: Was tut eigentlich die selbst ernannte Verfassungspartei CDU seit über neun Jahren gegen diesen permanenten Verfassungsbruch?
(Beifall DIE LINKE)
Sie tut auf jeden Fall nichts Substanzielles. Im Gegenteil, die Politik von Kultusminister Lorz führt sogar zu mehr Bildungsungerechtigkeit. Inklusion wird als Sparprogramm durchgesetzt. Die Ganztagsbetreuung an der Grundschule – ein Sparflammenganztag ohne Qualitätsstandards. Die Lernmittelfreiheit wird immer weiter ausgehöhlt, gerade wenn es um Schülertablets geht. Die Lehrerversorgung wurde künstlich kleingerechnet, jetzt haben wir einen Lehrermangel. Der Umfang der schulpsychologischen Unterstützung liegt immer noch unter dem Wert, auf den sich die Kultusministerinnen und Kultusminister in den Siebzigerjahren verständigt haben. Das ist die Bilanz der schwarzgrünen Bildungspolitik.
Dazu kommt ein enormer Sanierungsstau an den Schulen. Es sind vor allem die Grund-, Gesamt-, Haupt-, Real- und Berufsschulen, die in einem maroden Zustand sind, aber eben nicht die Gymnasien.
Die Investitionen der Schulträger sind auch davon abhängig, wie viele Gutverdiener in der jeweiligen Kommune leben. Die Spannweite liegt bei 267 € pro Schüler bzw. Schülerin pro Jahr in der Stadt Kassel und 1.444 € im Hochtaunuskreis. Wo bleibt das versprochene kommunale
Investitionsprogramm aus dem Koalitionsvertrag? Meine Damen und Herren, Sie sind es bisher schuldig geblieben.
(Beifall DIE LINKE)
Als LINKE stehen wir für die beste individuelle Förderung jedes Kindes. Dafür sind wir auch bereit, unser gegliedertes Schulsystem, das augenscheinlich immer mehr Ungerechtigkeiten produziert, statt sie zu überwinden, zu reformieren. Alle Bildungsstudien zeigen, dass längeres gemeinsames Lernen für alle gut ist, insbesondere für die benachteiligten Schülerinnen und Schüler, die nach der
4. Klasse ohne Unterstützung ihre Potenziale vielleicht noch nicht entfalten konnten. Ein Schulsystem, das aus dem Kaiserreich stammt, kann ein Aufstiegsversprechen in diesem Jahrtausend nicht realisieren.
(Zurufe AfD)
Stattdessen braucht es eine gut ausgestattete, inklusive und ganztägig arbeitende Schule für alle mit modernen pädagogischen Methoden.
Die Bildungspolitik, das will ich an dieser Stelle klar sagen, kann aber nicht alles abfedern, was über die Steuerund Sozialpolitik seit Jahrzehnten in eine völlig falsche Richtung läuft.
(Beifall DIE LINKE)
Wer die soziale Mobilität und die Bildungsgerechtigkeit wirklich erhöhen will – da schaue ich in Richtung der antragstellenden FDP –, der muss auch an die Frage der Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum herangehen; denn selbst mit einer Schule für alle wird die tiefe soziale Spaltung, wie wir sie mittlerweile in Deutschland haben, nicht überwunden werden.
(Zurufe Freie Demokraten)
– Sie haben das Thema soziale Mobilität zum Setzpunkt gemacht, und jetzt regen Sie sich darüber auf, dass über Verteilungsgerechtigkeit diskutiert wird. Das ist doch wirklich inkonsequent.
(Beifall DIE LINKE)
Wer – wie die FDP – mit diesem Setzpunkt A sagt, der muss nämlich auch B sagen. Sie können hier im Hessischen Landtag gut klingende Anträge für mehr Bildungsgerechtigkeit einreichen; aber wenn Sie gleichzeitig mit Christian Lindner als Finanzminister in der Bundesregierung dafür sorgen, dass bei der Kindergrundsicherung, aber eben auch beim BAföG gespart wird, und sich als Schutzpatronin der Reichen und der Konzerne gegen eine Besteuerung von sehr hohen Vermögen wehren, dann sorgen Sie für genau das Gegenteil von sozialer Mobilität, nämlich für weniger Bildungschancen.
(Beifall DIE LINKE)