Reden im Landtag

Elisabeth Kula über Schulpolitik in Hessen

Elisabeth KulaThemenBildungRegierung und Hessischer Landtag

In seiner 137. Plenarwoche am 28.06.2023 diskutierte der Hessische Landtag über Schulpolitik in Hessen. Dazu unsere bildungspolitische Sprecherin Elisabeth Kula.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Nach den Reden von Herrn Scholz muss ich mich erst einmal körperlich berappeln, bis ich wieder bereit bin, hier vorne irgendetwas zu sagen. Aber ich werde es schaffen.

(Heiko Scholz (AfD): Dann setzen Sie sich besser wieder hin! – Unruhe – Glockenzeichen)

Es ist ein sehr guter Anlass, uns hier im Landtag vor den Sommerferien, und bevor das neue Schuljahr beginnt, über Schulpolitik in Hessen auszutauschen; denn leider ist die Situation an hessischen Schulen seit Jahren ein echter Dauerbrenner. Während man sich im Kultusministerium lobt und auf die Schulter klopft für die tolle Arbeit, ist die Realität an den Schulen ein permanenter Krisenmodus. Unterrichtsausfall, fachfremder Unterricht, Krankenstände teilweise über 50 %, Überlastungsanzeigen von Lehrkräften und schlechtes Abschneiden bei Vergleichsstudien, und mittlerweile unterrichtet an Hessens Schulen mehr als jeder Zehnte ohne eine Lehrbefähigung – meine Damen und Herren, das ist das Resultat von über zehn Jahren schwarzgrüner Schulpolitik.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Leidtragende dieser Politik sind die Lehrkräfte, die zunehmend ausgebrannt sind, Eltern, die viel kompensieren müssen, und vor allem die Schülerinnen und Schüler, gerade diejenigen Schülerinnen und Schüler, die aus einkommensschwachen und sogenannten bildungsfernen Haushalten kommen. Der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und Einkommen bzw. Bildungsweg der Eltern wird immer stärker, obwohl alle immer davon reden, dass ihnen Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit so wichtig seien.

Schauen wir uns einmal die Befunde der IGLU-Studie aus dem letzten Jahr für Deutschland insgesamt an. Schülerinnen und Schüler der 4. Klasse lesen jetzt schlechter als noch vor fünf Jahren. Kinder aus einkommensschwachen Haushalten bekommen seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium. Kinder aus Facharbeiterfamilien müssten deutlich besser lesen als Kinder aus Akademikerfamilien, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. Das zeigen die Daten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einem Beamtenhaushalt eine solche Empfehlung bekommt, ist 2,5-mal höher als für ein Arbeiterkind. Dazu kommt, dass reiche Eltern sich eher für ein Gymnasium entscheiden, obwohl ihr Kind gar nicht so leistungsstark ist. Ärmere Eltern entscheiden sich hingegen selten für ein Gymnasium, obwohl ihr Kind eine solche Empfehlung erhalten hat.

In der Vergleichsgruppe der IGLU-Studie steht nur Bulgarien schlechter da als Deutschland, was den Zusammenhang von Herkunft und Leseleistung angeht. Da kann man sich wirklich nicht hinstellen und so tun, als sei alles in bester Ordnung. Das ist wirklich ein dramatischer Befund für die größte Volkswirtschaft in Europa und Ausdruck von eklatantem Politikversagen.

(Beifall DIE LINKE)

Jetzt schauen wir uns einmal die Zahlen für Hessen an. Da lohnt sich ein Blick in den INSM-Bildungsmonitor für das Jahr 2022. Hessen fällt da vor allem durch die schlechten Ergebnisse bei der Abiturientenquote von ausländischen Schülerinnen und Schülern auf, bei der Ausgabenpriorisierung und bei der Bildungsarmut. Die Schulqualität hat sich laut dem Bildungsmonitor im Vergleichszeitraum seit 2013 sogar verschlechtert.

Auch der IQB-Bildungstrend stellt, was Lesekompetenz angeht, den hessischen Schülerinnen und Schülern ein negatives Zeugnis aus. Besonders betroffen sind – keine Überraschung – Kinder aus einkommensschwachen Familien und Kinder mit Migrationshintergrund. Das Recht auf Bildung ist zunehmend ungleich verteilt in diesem reichen Land, und das ist ein gravierender Befund, der alle alarmieren sollte.

(Beifall DIE LINKE)

Im Übrigen verstoßen diese Zustände gegen die Hessische Verfassung, die in Art. 59 Abs. 2 garantiert, dass „der Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen … nur von der Eignung des Schülers abhängig zu machen“ sei, und das entspricht keineswegs der Realität.

Aber in der Hessischen Landesregierung ist business as usual. CDU und GRÜNE beschließen sogar Maßnahmen, die die Bildungsungerechtigkeit weiter verschärfen, z. B. beim Thema Lernmittelfreiheit. Diese wird zunehmend untergraben, obwohl sie ebenfalls in der Hessischen Verfassung steht. Schwarz-Grün hat im letzten Jahr das Schulgesetz so geändert, dass Tablets für Schülerinnen und Schüler nicht mehr vom Land bezahlt werden, sondern selbst mitgebracht werden müssen. Angesichts dessen, dass Kinder aus einkommensschwachen Haushalten sowieso immer weiter abgehängt werden, gerade nach Corona, ist das doch eine politische Sauerei.

(Beifall DIE LINKE)

Meine Damen und Herren, wir bleiben dabei, die Lernmittelfreiheit in Hessen muss auch im digitalen Zeitalter gelten.

Das sehen im Übrigen auch viele Elternvertreter und Schülervertreter so. Elternbeiräte aus 21 Städten und Landkreisen fordern von der Hessischen Landesregierung das Umsetzen der Lernmittelfreiheit ein. Wir sollten uns lieber ein Beispiel an Ländern wie Finnland nehmen, wo auch Lineal, Taschenrechner und Mittagessen bezahlt werden. Statt die Verfassung an Jubiläumstagen zu feiern, sollten Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Grün, die Verfassung ernst nehmen und auch in der Realität umsetzen.

(Beifall DIE LINKE)

Wer von Ihnen in den letzten Jahren – es werden einige gewesen sein – ein paar hessische Schulen von innen gesehen hat, der oder die weiß, dass auch in Sachen Schulsanierung in Hessen noch einiges zu tun ist: kaputte Toiletten, Fenster, zu kleine Klassenzimmer, ganze Gebäudeteile, die wegen Einsturzgefahr geschlossen werden müssen. Moderne und schöne Schulen sind leider noch nicht der Normalfall in Hessen. Oft ist immer noch die Schule das marodeste Gebäude in der Stadt.

Ja, einige Kommunen haben in den letzten Jahren angefangen, die Schulen zu sanieren. Aber auch das ist abhängig von der Einkommensverteilung. Dort, wo viele einkommensstarke Haushalte leben, wird auch viel in Schulbauten investiert. Aber gerade da, wo viele einkommensschwache Haushalte leben, ist die Investitionssumme niedrig. Sollte es nicht eigentlich genau umgekehrt sein, dass da, wo Kinder ohne große Unterstützung von zu Hause leben, die besten Unterstützungsmöglichkeiten sein sollten? Das ist doch irre.

(Beifall DIE LINKE)

Wir fordern schon seit Jahren eine Erhebung des Sanierungsstaus in Hessen durch die Landesregierung, genauso wie Investitionsprogramme. Aber davon will SchwarzGrün nichts wissen und zieht sich aus der Verantwortung für den Schulbau zurück. Die GEW hat berechnet, dass der Sanierungsstau in Hessen ungefähr 5 Milliarden € beträgt, und das ohne Digitalisierung und Ganztagsausbau. Entsprechende Einsicht bleibt bei Schwarz-Grün aber Wunschdenken.

Apropos Wunschdenken. Könnte ich mir etwas wünschen, dann würde ich mir wünschen, dass ein Kultusminister Lorz Verantwortung übernimmt für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsschulplatz an den Grundschulen.

(Beifall DIE LINKE)

Die Realität sieht aber leider ganz anders aus. Da die Schaffung von Ganztagsangeboten an Grundschulen in Hessen seit Jahren unterhalb des Bedarfs passiert, ist unser Ausbaubedarf höher als im Bundesdurchschnitt. Es ist davon auszugehen, dass über 60.000 neue Plätze bis 2029 geschaffen werden müssen und über 5.000 neue pädagogische Fachkräfte gewonnen werden müssen, um das umzusetzen. Wie will die Landesregierung das erreichen? Welchen Umsetzungsplan gibt es? Wo sollen die Fachkräfte herkommen? Keine Antworten des Kultusministers auf diese Fragen. Stattdessen wird wieder einmal die Verantwortung auf die Schulen abgeschoben.

Als Konzept soll der tolle Pakt für den Nachmittag umgesetzt werden, der nichts mehr ist als ein Schmalspurganztag ohne Qualitätsstandards und für den am späteren Nachmittag auch noch Elterngebühren erhoben werden. So viel zum Thema Bildungsgerechtigkeit.

Meine Damen und Herren, es geht auf jeden Fall nicht, dass die Landesregierung auch bei diesem Thema schon wieder die Hände in den Schoß legt und die Verantwortung nach unten abschiebt. Die Schulträger und die Schulen sollen all das eigenständig umsetzen, was vom Land in den letzten Jahren kam, ohne die dafür nötigen Ressourcen bereitgestellt zu bekommen.

Bestes Beispiel ist das Thema Inklusion. Inklusion heißt nicht, dass eine Schule in der Stadt oder im Kreis barrierefrei ausgebaut wird und dorthin alle Schüler gehen sollen, die irgendetwas haben. In der Regel sind das dann Gesamtschulen. Inklusion heißt auch nicht, dass es fast noch 200 Förderschulen in Hessen gibt, weil die allgemeinbildenden Schulen nicht die Möglichkeit haben, alle Kinder bedarfsgerecht zu fördern. Inklusion heißt auch nicht, dass eine Förderschullehrkraft zwei Stunden die Woche an eine Schule kommt, um sie zu beraten.

Dabei hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und muss sie umsetzen. Hessen schafft es aber aktuell nicht, da Inklusion hier ein Sparprogramm darstellt und es überall an Zuweisungen und Ressourcen fehlt.

Meine Damen und Herren, es muss endlich das erklärte politische Ziel sein, dass an den Schulen wirklich inklusiv gedacht und gearbeitet werden kann und sich die Förderschulen obsolet machen.

(Beifall DIE LINKE)

Ja, für all das braucht es Fachkräfte, Lehrkräfte und anderes pädagogisches Personal. Aber ich kann es wirklich nicht mehr hören, wie sich hinter diesem Argument versteckt wird. Denn der Mangel in diesen Bereichen ist hausgemacht. Zum einen hat man den Bedarf jahrelang schöngeredet und macht es heute noch, siehe Ganztag. Zum anderen war man nicht bereit, substanziell etwas an den Arbeitsbedingungen zu verbessern. Stattdessen werden Belastungsanzeigen, Brandbriefe usw. nicht ernst genommen und Lehrkräfte und Schulleitungen seit vielen Jahren immer mehr mit Zusatzaufgaben und Bürokratie belastet.

Der Kultusminister glänzt vor allem in der Disziplin, die Verantwortung nach unten abzuschieben. Ganztag – darum sollen sich die Schulen kümmern. Digitalisierung – macht die Lehrkraft. Inklusion und Integration – findet im Klassenzimmer statt. Erhöhte Verwaltungstätigkeiten, z. B. durch die selbstständige Schule – dazu haben wir doch Schulleitungen.

Die meisten Lehrkräfte in Hessen sind sich mittlerweile sicher: Sie werden ihr Renteneintrittsalter vorverlegen oder es mit erheblichen gesundheitlichen Problemen erreichen. Ich finde, das ist absolutes Politikversagen.

(Beifall DIE LINKE)

Ich habe zum Abschluss meiner Rede eine sehr gute Nachricht: Der Virtual-Reality-Schulbus des Kultusministers kommt auch an Ihre Schule. – Damit sollen Schülerinnen und Schüler davon überzeugt werden, auf Lehramt zu studieren. Ich frage mich, wie ich mir das vorstellen soll. Wird dann im Virtual-Reality-Schulbus mit einer VirtualReality-Brille ein hochmodernes, digitales Klassenzimmer gezeigt? Wenn die Schüler die Virtual-Reality-Brille wieder absetzen, was sehen sie dann eigentlich? Genau, sie sehen die Reality und zwar ohne Virtual, die, die sie jeden Tag sehen und der sie jeden Tag begegnen. Es ist doch wirklich hanebüchen, dass das die Idee ist, wie man zu mehr Lehrkräften kommen will.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsident Frank Lortz:

Frau Kollegin Kula, Sie müssen zum Schluss Ihrer Rede kommen.

Elisabeth Kula (DIE LINKE):

Ich komme zum Schluss meiner Rede. – Statt guter Bedingungen in der virtuellen Welt braucht es endlich den politischen Willen, die Schulen der öffentlichen Hand zu den besten zu machen. Außerdem müssen wir endlich darüber diskutieren, ob wir uns ein Schulsystem leisten wollen, das die Kinder mit zehn Jahren aussortiert, oder ob wir nicht doch längeres gemeinsames Lernen auf den Tisch bringen wollen. Es ist gut, dass im September 2023 endlich Bildungsproteste anstehen. Denn ohne Druck von unten passiert hier leider gar nichts.

(Beifall DIE LINKE)